Konferenz, 4. Dezember 2019

Konferenz – „Ähnlichkeit als Strukturkategorie der Lyrik. Perspektiven für die interkulturelle und komparatistische Literaturwissenschaft“

Zeit:
4. Dezember 2019 - 7. Dezember 2019
Ort:
Universität Trier, Gästeraum
Sprache:
  Deutsch  /    Englisch

Die DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Russischsprachige Lyrik in Transition“ (FOR 2603) lädt Sie herzlich ein zu der Konferenz „Ähnlichkeit als Strukturkategorie der Lyrik. Perspektiven für die interkulturelle und komparatistische Literaturwissenschaft“.

Ähnlichkeit ist ein Paradigma, das in den vergangenen Jahren zunehmend Aufmerksamkeit in den Kulturwissenschaften erfahren hat. Dabei erweist sich Ähnlichkeit insbesondere im Kontext von Diskussionen über Inter- und Transkulturalität als produktives Konzept, weil es herkömmliche dualisti­sche Denkmuster von Identität und Differenz oder Homogenität und He­terogenität aufzulösen und damit die Komplexität von Kulturbeziehun­gen präziser zu beschreiben vermag. Wie Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge (1966) gezeigt hat, wurde ein Denken in Ähnlichkeiten mit dem Auf­kommen der Neuzeit als primitives beziehungsweise magisches Denken etikettiert und außereuropäischen Kulturpraktiken zugeschrieben. Die Kunst und einzelne philosophisch-kulturwissenschaftliche Theoriediskurse indessen konnten im europäischen Raum das Überleben dieses Denkens sichern. Im literarischen Bereich ist es vor allem die Gattung Lyrik, die als paradigmatisches Archiv gelten kann, in dem sich Ähnlichkeit als elemen­tare Strukturkategorie bis in die Gegenwart hinein bewahrt hat. Dass sich Autorinnen und Autoren diese Eigenschaft der Lyrik immer wieder zunutze machen, um ein Denken in Ähnlichkeiten für die poetische Auseinanderset­zung mit Kulturkonzepten anzuwenden, zeigt sich zum Beispiel bei Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem West-östlichen Divan; heute ist es etwa die deutsch-japanische Schriftstellerin und Lyrikerin Yoko Ta­wada, die unter Rückgriff auf das japanische Prinzip des mitate wie auch in Referenz auf Goethes Konfigurationen von „Orient“ und „Okzident“ un­erwartete Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kulturräumen, darun­ter dem ostasiatischen und dem westeuropäischen herausstellt. Im Rahmen der Tagung soll es darum gehen, Ähnlichkeit explizit als Strukturkategorie der Lyrik produktiv zu machen und zu eruieren, welche Spielräume die Lyrik eröffnet, um über Kulturbeziehungen jenseits eines Denkens in Identitäten und Differenzen zu reflektieren. Das Programm setzt sich aus Beiträgen interkulturell orientierter Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftler aus der Germanistik, Slavistik, Sinologie, Japanologie und Kom­paratistik zusammen.

4.-7. Dezember 2019: „Ähnlichkeit als Strukturkategorie in der Lyrik. Perspektiven für die interkulturelle und komparatistische Literaturwissenschaft“, Trier (Konferenz).

Die vom Team des Kollegs gemeinsam organisierte Konferenz eröffnete Henrieke Stahl (Trier) mit einer Einführung zum Kolleg und einer Vorstellung der Internationalen Zeitschrift für Kulturkomparatistik, in der auch die Beiträge zur Konferenz erscheinen sollen. Dabei betonte sie die Bedeutung der Ähnlichkeitsfrage für kulturkomparatistische Projekte. Anschließend erläuterte die Vizesprecherin des Kollegs und wesentliche Initiatorin dieser Konferenz Franziska Bergmann (Trier/Oxford) die Verwendungsgeschichte des Ähnlichkeitsbegriffs, den sie als ein Drittes zwischen Differenz und Identität vorstellte. Im neuzeitlichen Europa als primitiv diskreditiert, wurde das Ähnlichkeitsdenken von Romantik und Surrealismus aufgegriffen und schließlich in den 2010er Jahren von der postkolonialen Germanistik und Komparatistik wiederentdeckt und als breiter anwendbares kulturtheoretisches Paradigma etabliert.

Im Eröffnungsvortrag betrachtete Anil Bhatti (Neu-Delhi) das Wirken von Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsdenken in historischen und aktuellen kulturell-politischen Kontexten. Konkret stellte er die ‚weichen‘ Differenzen des Habsburger Vielvölkerstaates den ‚harten‘ Differenzen gegenüber, durch die Nationalstaaten klare Konturen einer Kultur zu etablieren suchen. Die Gegenwart indessen zeichnet sich durch eine Gegenentwicklung aus, in der Multilingualität und die Fähigkeit, in mehreren kulturellen Sphären zu leben, wieder aufgewertet werden. Insbesondere das Sprachenlernen diene als Mechanismus der Verähnlichung, da es Kommunikation ermögliche. Diese fungiert als Grenzüberschreitung, als translatorischer Prozess, der der Unkenntnis des ‚Andern‘ entgegenwirke und das Zusammenleben unterstütze. In der Kulturforschung solle der Begriff der Ähnlichkeit nicht Identität und Differenz ablösen, sondern eine neue Perspektive zwischen Homo- und Heterogenität liefern, die der ‚fuzziness‘ heutiger, multi-identifizierter Lebensrealitäten Rechnung trage. Die beiden von Bhatti genannten Begriffe der Verähnlichung und der fuzziness wurden die ganz Konferenz hinweg in den Diskussionen mehrfach wieder aufgegriffen.

 

Sektion 1: Ähnlichkeitsrelationen und Vergleichspraktiken 

 

Zunächst leitete der Vortrag von Walter Erhart (Bielefeld) den Ähnlichkeitsbegriff in das Feld der Lyrik über. Nach einem knappen Überblick über die ähnlichkeitserzeugenden Mechanismen in der Lyrik, unter anderem Reim und Rhythmus, konzentrierte Erhart sich vor allem auf den literarischen Vergleich, der zwar einen schlechten Ruf in der Rhetorik hat, dem Denken aber inhärent ist. In der Betrachtung der Lyrik Friedrich Hölderlins und Jan Wagners demonstrierte er, wie ein Vergleich Ähnlichkeiten identifiziert und sichtbar macht.

Iulia-Karin Patrut (Flensburg) konzentrierte sich auf eine politische Dimension des Ähnlichkeitsdenkens, die in der interkulturellen Literaturwissenschaft produktiv ist. Dabei funktioniert Ähnlichkeit als Utopie des Übergangs statt der Identität oder Differenz, die Unterscheidungen in Frage stellt, Gerechtigkeit einfordert und eine Transformation kultureller Wissensordnungen anstößt. Dazu führte sie das Ähnlichkeitsdenken in metaphorischen Gedichten und Märchen bei Novalis an, aber auch die onomatopoetischen Gedichte Oskar Pastiors, in denen formale Ähnlichkeiten sich über den Inhalt legen und so zur Auseinandersetzung mit beidem auffordern, was in eine Kritik der Überwachung in der Diktatur mündet.

Ralph Müller (Fribourg) schloss die Sektion mit einer Betrachtung von Vergleich und Metapher in Marcel Beyers Gedicht Falsches Futter ab. Er wies darauf hin, dass der Vergleich als wissenschaftliches Kontrollverfahren, aber auch als poetisches Erkenntnismittel und als Textstrategie funktionieren kann, wobei es sich bei den letzteren Verfahren um eine literarische Annäherung an die Welt handelt, die über Ähnlichkeiten arbeitet, nicht um eine logische. Die Metapher als primäre Textstrategie des Vergleiches verbindet dabei direkt zwei Glieder eines tertium comparationis. Interessant ist hierbei, welche Elemente ausgeblendet werden, um Sachverhalte durch Ähnlichkeiten zu verbinden. In den Beispielgedichten wird so etwa eine Ähnlichkeit zwischen einem Hund und seinem Halter in ihrer zivilisierten Wildheit, bzw. zwischen einem Hund und einem politisch angepassten Dichter in ihrer Gehorsamkeit erzeugt.

Sektion 2: Ähnlichkeit: Perspektiven für die komparatistische Lyrikforschung        

Wiebke Denecke (Boston) eröffnete die Sektion mit einer Betrachtung der Verwendung des Ähnlichkeitsbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung, insbesondere in Ostasien. Während in der europäischen Literaturgeschichte des Mittelalters noch die gesamte, vorrangig lateinischsprachige Textproduktion beachtet wird, weshalb Ähnlichkeiten zentral sind, stellen volkssprachliche Literaturgeschichten im Kontext der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert die Beiträge in ihrer Sprache heraus, sodass Differenzen zentral werden. Zudem erfolgt eine Wertverschiebung von der Lyrik zum Roman als künstlerisch relevantestes Genre. In der Literaturgeschichtsschreibung Ostasiens, das bis ins späte 18. Jahrhundert eine durch die chinesische Schriftsprache verbundene Kultursphäre war und der Lyrik besonderen Wert beimaß, haben diese Tendenzen der westlichen Geschichtsschreibung zu Fehldarstellungen durch Auslassung chinesischsprachiger Texte einheimischer Autoren und zur Überbetonung von Prosa geführt. Dazu kommt, dass Japan als Kolonialmacht wirkte. Infolgedessen wurden die ersten chinesischen Literaturgeschichten aus japanischer Perspektive verfasst, und die ersten koreanischen entstanden als antikoloniales Unternehmen gegen die Kultur der japanischen Besatzer. Das Ähnlichkeitskonzept hilft hier, Literaturgeschichtsschreibung aus dem Nationalitätsdiskurs herauszulösen und transkulturellen Austausch sowie gemeinsames kulturelles Erbe zu betonen.

Den ersten Konferenztag beendete Franziska Bergmann (Trier/Oxford) mit einer Analyse mehrsprachiger Lyrik. Sie wies zunächst auf die Bedeutung des Ähnlichkeitskonzepts für transkulturelle Lyrik hin, wo es als Korrektiv gegen Alterisierungsprozesse wirkt. Sodann wendete sich Franziska Bergmann am Beispiel ausgewählter Textpassagen solchen Gedichten zu, welche in spielerischer Weise verschiedene Formen von Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Sprachen ausstellen.

Michail Pavlovec (Moskau) eröffnete den zweiten Konferenztag mit einer Betrachtung des Umgangs der Dichter der sog. Lianozovo-Schule (Vsevolod Nekrasov, Genrich Sapgir u.a.) mit der westlichen Literatur nach dem Zerfall der UdSSR. Dabei wurde deutlich, dass die russischen Konkretisten sich von den westeuropäischen durch gezielte Erzeugung von Unähnlichkeit absetzen wollen.

Anschließend stellte Johanna Krenz (Trier) ihre Forschung zur polnisch-chinesischen Literaturkomparatistik vor. Sie ging zunächst auf die Schwierigkeiten beim Vergleich dieser beiden Literaturen ein, verwies aber auch auf die produktiven Ähnlichkeiten in der politischen Geschichte der Länder und führte Beispiele dafür an, wie sich die Dichter des einen Landes mit dem anderen Land beschäftigt haben. Während chinesische Dichter Polen und seine Geschichte als zensursicheres Gleichnis für die eigenen Sorgen über politische Unterdrückung darstellen und Leiden als verbindendes Element nutzen, drücken polnische Dichter nach dem Zusammenbruch des Kommunismus keine Verbindung mit China aus, sondern wählen exotisierende Bilder chinesischer Landschaften, wobei z.T. ein Gefühl kultureller Überlegenheit zum Ausdruck kommt. Für strukturelle Ähnlichkeiten der Entwicklungen in der chinesischen und polnischen Literaturgeschichte schlägt Krenz den Begriff der Singularität vor.

Sektion 3: Ähnlichkeit und Übersetzung  

Die dritte Sektion eröffnete Eduard Klopfenstein (Zürich) mit der Diskussion eines mehrsprachigen Übersetzungsexperiments in der Zeitschrift Passagen, an dem er selbst beteiligt war. Dabei wurden drei Gedichte in drei möglichst weit voneinander entfernte Sprachen und zum Schluss wieder in die Ausgangssprache übersetzt, sodass eine ähnliche, aber veränderte Version des Ursprungsgedichts am Schluss der Kette steht (z.B. Französisch –Japanisch – Deutsch – Arabisch – Französisch). Klopfenstein interpretierte die starke funktionale Ähnlichkeit der Endprodukte mit den Ausgangsgedichten als Argument gegen die oftmals vorgebrachte Unübersetzbarkeit der Lyrik, die ein Vorurteil als Ergebnis des Differenzdenkens sei. Die Tatsache der Nähe zwischen Original und Rückübersetzungführte er auf die Annahme einergemeinsamen, den Einzelsprachen vorgeordneten poetischen Sprache zurück.

Hans Peter Hoffmann (Mainz-Germersheim) stellte in seinem Vortrag zur Übersetzung aus dem Chinesischen die Uneindeutigkeit des Ähnlichkeitsbegriffs als Stärke des Konzeptes vor, da es Gleichzeitigkeiten und Korrespondenzen in den Fokus nähme, statt sich auf Grenzen zu konzentrieren. In der Translationswissenschaft ist dies besonders relevant, da die Extreme Identität und Differenz nicht zu erreichen sind, weil sämtliche Ähnlichkeiten zwischen Original und Übersetzung niemals Identität ergeben können, aber auch sämtliche Unähnlichkeiten keine Dichotomie erzeugen. Unähnlichkeiten sollten daher nicht als Mangel, sondern als gestalterisches Potential begriffen werden, durch den der Text in einer anderen Sprache neu erlebbar wird. Den Drang zur Erklärung bei einigen Übersetzern führt Hoffmann auf das kulturelle Differenzdenken zurück. Erklärende Übersetzungen verschieben jedoch den Fokus der Geschichte oder lassen stilistische Elemente verschwinden. Verfremdendes Übersetzen als radikalste Form der Ähnlichkeitsherstellung funktioniert jedoch nur bei einer gemeinsamen Basis, über die Stil des Originals oder Ausdrucksweise der Originalsprache beibehalten werden können, ohne den Ergebnistext unverständlich zu machen. Hoffmann rät daher, den Leser zur Reflexion über den Übersetzungscharakter des Textes anzuregen, indem man fremde oder kulturell unpassende Elemente einbaut.

Frank Kraushaar (Riga) besprach die Übersetzungsherausforderungen bei der zeitgenössischen chinesischen Cyberlyrik neoklassizistischer Stilrichtung vor dem Hintergrund der konzeptuellen Aufteilung der Hauptkategorien von „Ähnlichkeit“ (Bi, Xing, Fu) in der klassischen Poetik Chinas. Am Beispiel des Stils von Lizilizi, einem vielbeachteten Autor der Cyberlyrik, der klassisches Stilempfinden und profane Umgangssprache verknüpft, machte Kraushaar deutlich, dass „Ähnlichkeit“ hier, wo auf dem Boden der Tradition eine Partizipation an der Gegenwart stattfindet, als Grundlage humanistischer Wahrheitssuche dient.

Sektion 4: Ähnlichkeit als Strukturkategorie in der Lyrik

Die Sektion eröffneten Gracia Pulvirenti und Renata Gambino (Catania/Berlin), die in ihrer Herangehensweise an das Konzept „Ähnlichkeit“ von einer Prämisse der Neuroästhetik ausgehen. Diese betrachtet das Kunstwerk als anthropologisches Instrument und nimmt an, dass die Erarbeitung von Konzepten anhand von Ähnlichkeiten stattfindet. Demnach kann das Gleichnis als Denkfigur, als mentale Operation behandelt werden. Zeitgenössische kognitive Studien arbeiten bekanntlich auf dieser Grundlage mit dem Model des „blending“. Doch Pulvirenti und Gambino argumentieren, dass sich dieses schon in früheren Ansätzen nachweisen lässt, nämlich auch in Goethes Theorie und Gebrauch des Gleichnisses.

Andreas Regelsberger (Trier) beschloss den zweiten Konferenztag mit einem Überblick über die Funktion des mitate-Konzeptes in der japanischen Kunst und Literatur. Als verwandtes Empfinden oder assoziativer Verweis ist mitate im klassischen Japan durch alle künstlerischen Ausdrucksformen verbreitet. In frühen Gedichten äußert sich dies im Spiel mit der im Japanischen häufigen Homophonie sowie in doppelten Spiegelungen der poetischen Bilder, während im komischen haikai-Gedicht der Frühmoderne die unerwartete Begegnung eine figurative Ähnlichkeit erzeugt, oft in parodistischer Anspielung auf klassische Literatur. Im Theater ergibt sich mitate aus dem Kontrast zwischen Dramenwelt und Dramenplot sowie in der mie-Pose, dem dramatischen Erstarren eines Schauspielers auf dem emotionalen Höhepunkt einer Szene, wobei sich hier Drama und (ab)bildende Kunst gegenseitig beeinflussten. Theaterkritiken benutzten für die Bewertung von Schauspielern komplexe bildliche Vergleiche, die ebenfalls unter mitate fallen. Regelsberger beendete seinen Vortrag mit einer Vorstellung des Fotografen Tanaka Tatsuya, dessen Miniaturfotografien durch visuelle Ähnlichkeiten verwandelter Alltagsgegenstände (etwa ein Nagelknipser als Schnellzug) den Titel mitate no sekai (Welt des mitate) tragen. Somit umfasst der mitate-Begriff diverse unerwartete Zusammenhänge, die aus (kulturell bedingen) Ähnlichkeitsrelationen entstehen.

Sektion 5: Poetik der Ähnlichkeit am Beispiel einzelner LyrikerInnen

Christian Quintes (Trier) eröffnete die letzte Sektion mit seiner Betrachtung der Ähnlichkeit als Strukturprinzip bei Durs Grünbein. So führte er Jahre im Zoo an, in dem Grünbein seine Kindheit in der DDR verarbeitet und dabei über die Ähnlichkeit von Erinnerung mit einem Kaleidoskop reflektiert. Zentral war aber das Motiv des Traumes, dessen Deutung seit frühesten Dichtungen belegt ist. Grünbein verweist etwa in seinem auf den Satiren Juvenals aufbauenden Gedicht Kein gutes Omen auf Traumdeutung im Römischen Reich, geht dabei aber nicht auf die Symboltheorien Artemidors ein, die auf Ähnlichkeitsdenken beruhen. Solche kritischen Auseinandersetzungen mit Traumdeutung finden sich dagegen in Grünbeins Reservoir der Träume, einem nach dem antiken Dramenschema aufgebauten metakritischen Langgedicht, in dem Grünbein die Entwertung des Traums durch seine Behandlung als Mittel zum Zweck kritisiert. Hauptziel der Kritik ist dabei die Freudianische Traumdeutung, die ebenfalls auf Ähnlichkeitsdenken beruht, allerdings sind dabei Ähnlichkeiten mit Geschlechtsorganen zentral.

Im Anschluss stellte Marion Eggert (Bochum) die Programmatik der Ähnlichkeit in der Lyrik der koreanischen Dichterin Kim Hyesoon vor. Anders als ihre männlichen Vorbilder, die noch die japanische Schulbildung im besetzten Korea durchliefen und sich im Fall eines Studiums mit westlichen Literaturen auseinandersetzen, ist Kim monolingual aufgewachsen und hat Koreanistik studiert. So muss sie ihr Koreanisch-Sein nicht durch ihre Texte beweisen und kann eine globale, urbane Moderne zeigen, die nur andeutungsweise koreanisch geprägt ist. Aufgrund ihres Genderbewusstseins entwirft sie eine eigene Sprache, da sie aus dem männlich geprägten Literaturumfeld ausgeschlossen und in die Kategorie „Frauenliteratur“ delegiert wurde. Daher wendet sie sich der weiblichen schöpferischen Rede im Schamanismus zu, in der sich die Schamanin die Vorfahren zu eigen macht, statt sie zu imitieren. Ihr Band FrauTierAsienDarstellen betont die Ähnlichkeit der Kategorien Frau, Tier und Asiate als abgelehntes Anderes. Zugleich dient die Reise als Methode und Metapher der Überwindung binärer Grenzziehungen und macht die Reisende überall fremd, auch in der Muttersprache. Besonders der Aufsatz zum Rattentempel in Indien zeugt von Kims Poetik des Schreibens als Verähnlichung, enthält jedoch selbst orientalisierende Asienklischees.

Der Abschlussvortrag von Henrieke Stahl (Trier) beschäftigte sich mit der Weltoffenheit des Subjekts in der neueren Naturlyrik, das mithilfe von zwei Konzepten der neuen Biopoetik und philosophischen Ästhetik ‚Autopoiesis‘ (Varela) und ‚Aura‘ (Benjamin, Picht) analysiert wurde. Das ‚offene Subjekt‘, offen gegenüber Welt und Natur, bildet eine Antwort auf die Herausforderungen des Anthropozäns in der Lyrik. Nach dem Autopoiesisgedanken funktioniert das Gedicht analog zum natürlichen Organismus, während Aura als unsichtbare Kraftgestalt  eines Dings oder Ortes durch die Interferenz zwischen Subjekt und Objekt in der inneren Wahrnehmung des ersteren durch Gefühle und Imaginationen auftritt. Als Beispiel für die Aura führte sie Gennadij Ajgis Gedicht weiden an und arbeitete die christliche Symbolik in der Naturdarstellung heraus. Les Murrays Great Bole, in dem sich ein Baum mit poetischen Mitteln selbst darstellt, diente als Beispiel für die autopoietische Form, während Christian Lehnerts mehrstimmiges Gedicht Die Buchen und der Sturm beide Ansätze zusammenbringt und durch die Anwendung des Dreifachen Schriftsinns auch eine theologische Dimension enthält. Allen drei Beispielen ist die Öffnung des sprechenden Subjekts gemeinsam sowie die Übersetzung nichtsprachlicher Elemente in die Lyrik durch Analogiebildungen.