Eine Gruppe von vier Mitgliedern der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe FOR 2603 „Russischsprachige Lyrik in Transition“ der Universität Trier befand sich von 24. Februar bis 8. März 2020 auf einer Vortrags- und Konferenzreise durch die Vereinigten Staaten. Unter Leitung der Direktorin des Kollegs Henrieke Stahl führten Matthias Fechner (Trier), Friederike Reents (Trier/Heidelberg), Alexandra Tretakov (Trier) und der mit dem Kolleg assoziierte Slavist Rainer Grübel (Oldenburg) an den Universitäten Georgetown (Washington, D.C.), Columbia (New York), Johns Hopkins (Baltimore) und Harvard (Cambridge) zusammen mit den Partnern des Kollegs vor Ort Veranstaltungen zur Gegenwartslyrik durch.
Die erste Station der Reise bildete die Georgetown University in Washington D.C., die der Universität Trier bereits fast seit der Gründung der Universität vor 50 Jahren durch ein Partnerschaftsabkommen verbunden ist. Das Profil der Georgetown University ist, ähnlich wie im Fall der Universität Trier, u.a. besonders durch die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften geprägt. Die beiden Veranstaltungen wurden sowohl vom Kolleg als auch der Georgetown gemeinsam organisiert und unterstützt: Im Rahmen eines Kursprogramms der germanistischen Abteilung unter Leitung von Marianna Ryshina-Pankova zum Thema „Green Germany“ hielt Matthias Fechner am 27. Februar einen Vortrag zur Geschichte und gegenwärtigen Entwicklung der Grünen, der sehr gut von Studierenden, DoktorandInnen und KollegInnen der germanistischen Abteilung besucht war und rege diskutiert wurde. Am folgenden Tag (28.2.2020) stellte die Kolleggruppe in einem Roundtable Ergebnisse ihrer Arbeit zu Fragen des Umgangs mit dem Anthropozän in der deutschen Gegenwartslyrik vor. Im Mittelpunkt standen Beispiele poetisch-kunstvoller und theoretisch-philosophisch ambitionierter Lyrik mit AutorInnen wie Ann Cotten, Sabine Scho und Birgit Kreipe oder Durs Grünbein und Christian Lehnert. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ungeachtet ihres anspruchsvollen und kritisch reflektierten Beitrags zu den ökologischen und daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Herausforderungen des Anthropozäns, welches die Grenzen zwischen Natur und Kultur, Mensch und Kosmos verrückt hat und neu auslotet, wenig in die Gesellschaft selbst hinein wirken und ihre Gedichte daher eher ein „Geflüster“ (Fechner) bleiben.
Auf der folgenden Etappe der Reise trugen Vertreter der Gruppe parallel an zwei Orten vor: Während Friederike Reents am Comparative Department of Thought and Literature der Johns Hopkins University in ihrem Vortrag der Frage nachging, inwiefern Übersetzungen zum Verständnis gerade auch global-gesellschaftlich relevanter Herausforderungen wie denen des Anthropozäns von eminenter Bedeutung sein können, waren Henrieke Stahl und Rainer Grübel am 3.3.2020 zu einem russischsprachigen Workshop „Political Poetry in Contemporary Russia“ an der Columbia University in New York City, den das Kolleg gemeinsam mit dem Harryman Institute und der slavistischen Abteilung der Columbia, vertreten durch Mark Lipovetsky, durchführte. Das Seminar wurde von dem amerikanischen Partner organisiert und auch dankenswerter Weise finanziell unterstützt. Im Zentrum standen gesellschaftliche und politische Aspekte der russischen Lyrik der Gegenwart, wobei ein Akzent auf den neuen Medien und den durch sie für die Lyrik neu gegebenen performativen Möglichkeiten lag. Bedeutsam für die russische politische Lyrik der Gegenwart ist ihr partizipatorisches Potential, das sogar eine gewisse Breitenwirkung zeigt und über die Kreise elitärer, poetisch elaborierter Kreise hinausgeht – Lyrik, gerade in Verbindung mit anderen Medien und Genres im Netz, wird zu einem Medium auch politischer Kommunikation, poetisch-rhetorische Verfahren werden als meinungsformende Strategien eingesetzt. Politisch wie poetisch anspruchsvolle Projekte führen aber auch hier, analog zur poetischen Anthropozändebatte in Deutschland, eher ein Nischendasein.
Den Höhepunkt der Reise bildete die Konferenz “Contemporary Translation in Transition: English, German, and Russian Poetry” (6.-7. März) an der Harvard University in Cambridge, die das Kolleg gemeinsam mit Vertretern von drei Bostoner Universitäten – Harvard, Boston University und das Massachusetts Institute for Technology – in einer Kooperation von Slavistik und Germanistik organisiert hat. Die Spezialistin für neuere russische Lyrik Stephanie Sandler in Harvard war Gastgeberin der Konferenz, auf der LiteraturwissenschaftlerInnen, preisgekrönte ÜbersetzerInnen und LyrikerInnen aus Deutschland, Großbritannien, Russland, Lettland und den USA zusammen kamen, wie Karen Leeder (Oxford), Lyn Marven (Liverpool), Iain Galbraith (Wiesbaden), Polina Barskova (Hampshire), Anna Glazova (Hamburg), Uljana Wolf (Berlin), Dmitry Kuz’min (Lettland), Matvei Yankelevich (New York), Eugene Ostashevsky (New York/Berlin) und viele mehr. Eine Besonderheit der Konferenz war, dass Panels mit wissenschaftlichen Beiträgen im Wechsel mit Fachdialogen (“Paired Conversations“) erfolgten, in denen Übersetzer und Dichter zu verschiedenen Themenbereichen der Übersetzung von Gegenwartslyrik unter der Moderation einer/eines Literaturwissenschaftlers/in zusammen und mit den anderen Teilnehmenden diskutierten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand das poetisch innovative Potential, welches Übersetzungen als kunstvolle, individualpoetische Nach- und Neudichtungen im Dialog mit und aus der Inspiration durch das sogenannte ‚Original‘ für die sogenannte Zielpoesie haben können.
Die Reise zeigte die hohe Bedeutung, welche der direkte persönliche Kontakt und das durch diesen ermöglichte Gespräch hat, welches unvorhergesehene Einsichten durch gemeinsames Denken an eingebrachten Ideen und Fragestellungen zu gewinnen erlauben kann. Direkt auf die Reise erfolgt der virusbedingte Stopp internationaler Mobilität auch der Kollegforschung, was aktuell eine Verlagerung des Austauschs in die virtuelle Sphäre des Internets nach sich zieht – zeitweise mag dieses gelingen, da durch die persönlichen Begegnungen bereits die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit geschaffen wurde. Die Reflexion der Reise und insbesondere der Konferenz in Harvard, die auf das gemeinsame Gespräch in freundschaftlicher Atmosphäre mehr, als auf den Einzelbeitrag konzentriert war, macht vor dem Hintergrund der internationalen Kontaktsperren umso mehr den besonderen Wert der persönlichen Begegnung und des gemeinsamen Austauschs zur produktiven Weiterentwicklung in der Forschung bewusst. Denn gerade in den Philologien unterscheiden sich die Forschungskulturen nicht nur im Hinblick auf die teils grundlegend anderen Formen der Diskursführung und Denkweisen, sondern auch hinsichtlich der Methoden und den durch diese zu gewinnenden Einsichten. Der direkte Kontakt ermöglicht es, die Diskursgrenzen zu überschreiten, die häufig nicht nur durch Sprachbarrieren, sondern auch durch ‚blinde Flecken‘ für die am eigenen Diskurs nicht direkt partizipierende Forschung im selben Gebiet bedingt sind.