Die DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Russischsprachige Lyrik in Transition“ (FOR 2603) lädt Sie herzlich zu einem Vortrag von Frank Kraushaar ein zum Thema „Lockdown – Lüge – Lyrik: Chinesische Gegenwartslyrik in der virtuellen Öffentlichkeit 2000 – 2020“. Der Vortrag wird live über Zoom gestreamt, bitte melden Sie sich bis zum 28.07. bei Frau Baharova an (baharova@uni-trier.de) um an der Live-Veranstaltung teilzunehmen. Den Teilnehmen werden die Zugangsdaten zur Zoom-Sitzung kurz vor Veranstaltungsbeginn zugeschickt.
Zum Vortrag:
In der chinesischen Gesellschaft wird heutzutage die nationale kulturelle Identität auch auf den Begriff shiguo – „Nation der Lyrik“ – gebracht. Anders als bei dem scheinbar verwandten deutschen Stereotyp der „Nation der Dichter und Denker“ wird in China diese Vorstellung unmittelbar auf die Gegenwart, bzw. auf eine sowohl lokal als auch überregional vernetzte, virtuell und analog präsente, traditionelle und moderne lyrische Formen umfassende und vermischende Kultur des Machens und der Verbreitung von Gedichten bezogen, die sich im Grunde deutlich von der scheinbaren Dichotomie avantgardistischer und kulturkonservativer Stile (und Netzwerke) des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Heather Inwood (2014), Zhiyi Yang (2018) u.a. haben die außerordentliche Bedeutung „nationaler Katastrophen“ und öffentlicher Skandale bei der Entstehung dieser lyrischen Kultur, die für die chinesische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts allemal charakteristisch, aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet, sogar identitätsstiftend ist, hervorgehoben. Die nach wie vor akute Pandemiekrise, die ihren Ausgang von den dubiosen Ereignissen in Wuhan und der Provinz Hebei im Frühjahr 2020 nahm, stellt natürlich ein weiteres Glied in der Kette solcher Ereignisse dar. Zugleich unterscheidet sie sich von den meisten ihrer Vorgänger in vielerlei Hinsicht, aber vor allem durch eine zuvor kaum gekannte Rigorosität, mit der die chinesische Staatssicherheit über ihre zahlreichen offiziellen, halb-offiziellen und inoffiziellen Organe in das öffentliche Geschehen und in private Kommunikation eingreift.
In meinem Vortrag werde ich zunächst eine Skizze der (analogen und virtuellen) Szenen der chinesischen Gegenwartslyrik vorzeichnen. Dazu werden einige der wichtigsten Brennpunkte der kulturellen und gesellschaftlichen Transformation (bei politischer Stagnation), der letzten zwei Jahrzehnte exemplarisch und teilweise unter Bezug auf die aus ihnen hervorgegangenen lyrische Texte diskutiert. Das wird uns zu einigen Gedichten des nahe Wuhan lebenden Cyberlyrikers Lizilizilizi (geb. 1964) und den teilweise dazu entstandenen Video-Adaptationen führen, die als poetischer Widerstand gegen die brutale, doppelte Hebelwirkung von „Lockdown“ und Lüge den Sinn von Freiheit und Wahrheit in einer Gesellschaft offenlegen, die beides kaum anders mehr schützen kann.
Mehr Informationen zu Dr. Frank Kraushaar finden Sie auf seiner Profilseite: https://lyrik-in-transition.uni-trier.de/fellows/frank-kraushaar/