Konferenz, 22. Februar 2019

Konferenz – „Lyrik und Transkulturalität in Asien und Europa“

Zeit:
22. Februar 2019 - 23. Februar 2019
Ort:
Taipeh (Taiwan), National Taiwan University in Taipeh
Sprache:
  Englisch  /    Chinesisch

Vom 22. bis zum 23. Februar fand die Konferenz „Lyrik und Transkulturalität in Asien und Europa“ an der National Taiwan University in Taipeh statt.

Konferenz und Exkursion der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Russischsprachige Lyrik in Transition“ im Februar/März 2019 in Taiwan

 

Teilnehmer (Trierer Team):

Prof. Dr. Henrieke Stahl

Prof. Dr. Christian Soffel

Prof. Dr. Andreas Regelsberger

Prof. Dr. Rainer Grübel

Jasmin Böhm, M. A.

 

Die Reise hatte zwei Schwerpunkte: eine Konferenz in Taipeh und eine Exkursion mit Workshop und Arbeitstreffen mit AutorInnen und ForscherInnen der taiwanesischen Ureinwohnerlyrik.

 

Taipeh:

22.-23.02.2019 Poetry and Transculturality in Asia and Europe. International Symposium

Die Konferenz an der National Taiwan University wurde in Kooperation mit dem Kolleg ausgerichtet. Auf taiwanesischer Seite war die Professorin für russische Literatur Tsung-Huei Hsiung zuständig, vom Kolleg der Sinologe Professor Christian Soffel. Die Konferenzsprachen waren Englisch und Russisch. Die Vorträge waren inter- und transkulturellen Themen in den chinesisch-, deutsch-, japanisch-, englisch-, türkisch- und russischsprachigen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts gewidmet und befassten sich schwerpunktmäßig mit Gegenwartslyrik im inter- und transkulturellen Kontext. Dabei traten überraschende typologische Ähnlichkeiten zwischen weit auseinanderliegenden Genres und Kulturen hervor, etwa bezüglich der Darstellung pessimistischer Weltanschauungen im russischen Realismus und der Hakkafolklore oder zwischen russischem Neorealismus und chinesischer Literatur. Dagegen zeigte sich, dass konkrete, in einer Literatur beheimatete Motive bei der Aneignung durch eine andere Literatur zu Transformationen tendieren. Deutlich wird das etwa bei der Thematisierung von Grenzerfahrungen und bei der Anwendung visueller Elemente in der Gedichtkomposition. Die Gegenwartslyrik bietet eine Palette an transkulturell geprägten Themen und Formen, die von Mehrsprachigkeit, Gendertransfer und Transformationen des Verhältnisses von Natur und Kultur über motivische Verschränkungen bis zu Gattungshybriden reichen. Eine Publikation der Beiträge in Taiwan ist in Vorbereitung.

 

23.02.-01.03.2019 Lyrik der Ureinwohner – Workshop und Arbeitstreffen

23.02.2019, Taipei

In Taipei trafen wir uns mit dem Dichter Salizan Takisvilainan (沙力浪•達岌斯菲芝萊藍, oder kurz 沙力浪, geb. 1981), einem Angehörigen des Bunun-Volkes, das in der Hochgebirgsregion rund um den Jade-Berg (Yushan 玉山) beheimatet ist. Er arbeitet dort als Bergwächter und steht deshalb in engem Kontakt zur Naturumgebung. Salizan gilt als sehr vielversprechendes Nachwuchstalent unter den indigenen Dichtern Taiwans. Wir diskutierten poetische Konzepte anhand seiner Gedichtsammlung Dinas Worte (Dina de hua 笛娜的話; dina 笛娜 ist eine phonetische Umschreibung des Bunun-Wortes tina und bedeutet „Mutter“). Im Laufe des Gesprächs erläuterte der Autor mithilfe etlicher Beispiele die Besonderheiten seiner Lyrik. Zur Anwendung kommen bei ihm nicht wenige Techniken konkreter Poesie, z. B. bei einem Gedicht, das die chinesische Mauer, die Barbarenvölker fernhält, zum zentralen Bergmassiv Taiwans in Beziehung setzt. Salizan nutzt in seinen Werken verschiedene Sprachen und Schriftsysteme, die für Taiwan wichtig sind (traditionelle und moderne Schriftsysteme der indigenen Völker, Chinesisch, Japanisch, die Transkriptionsmethode Zhuyin fuhao 注音符號, …), schreibt aber im Wesentlichen auf Chinesisch. Er hat uns auch einen weiteren Gedichtband geschenkt: Das Signalfeuer im Dorf (Buluo de denghuo 部落的燈火).

Vermittelt wurde dieser Kontakt von Frau Lin Yi-miao 林宜妙, der Leiterin eines Kultur- und Publikationszentrums für Ureinwohnerliteratur in Taipei, Shanhai wenhua zazhi she 山海文化雜誌社. Sie hat uns einen Katalog mit aktuellen Publikationen zur Verfügung gestellt.

Abends trafen wir uns mit einer weiteren Gruppe von indigen Literaten, darunter Walis Nokan (瓦歷斯•諾幹, geb. 1961). Er ist der Autor einer Sammlung von chinesischsprachiger Kurzprosa (Titel: Mikro-Erzählungen, Wei xiaoshuo 微小說), die maximal 2000 – oft sogar nur einige hundert – Zeichen lang und nach Grundthemen (darunter auch „indigene Kultur“) sortiert sind. Teilweise besitzen diese Stücke sogar den Charakter von Prosagedichten, obgleich der Autor sie explizit als xiao­shuo 小說 (traditioneller chinesischer Sammelbegriff für Erzählliteratur, von Kurzgeschichten bis hin zu Romanen) sieht. Walis Nokan bezeichnet diese Werke deshalb als xiaoshuo, weil sie (1.) eine Handlung wiedergeben, (2.) eine erzählerische Grundstruktur aufweisen und (3.) „ungewöhnliche“ Dinge (qi 奇) zum Gegenstand haben. Eine Übersetzung des Bandes Mikro-Erzählungen ist auf Französisch erschienen unter dem Titel Les Sentiers des Rêves.

 

24.-25.02.2019, Taitung

In Taitung wurden wir sehr herzlich empfangen von Frau Professor Dong Shuming 董恕明 (Professorin an der Fakultät für chinesische Literatur an der Taitung University 臺東大學華語文學系, sowie Autorin des Buches Zwischen Bergen und Ozean, jenseits von Himmel und Erde – Die Literatur der indigenen Völker Taiwans in chinesischer Sprache, Shanhai zhi nei tiandi zhi wai – yuanzhumin Hanyu wenxue 山海之內天地之外—-原住民漢語文學) und Herrn Professor C.T. Lin 林清財 von der Fakultät für Musikwissenschaft  臺東大學音樂學系.

Man geleitete uns zunächst zu einem Kulturpark mit einer traditionellen Puyuma-Männerwohnanlage sowie anschließend zu einer archäologischen Stätte, die am Rande von Grabungsarbeiten beim Bau des neuen Bahnhofs zutage getreten ist. Unterhalb der Oberfläche verbargen sich Steinbauten und Grabanlagen, die auf eine dichte Besiedlung in früheren Zeiten schließen lassen.

Es folgte ein Besuch im „Beinan Township“ – einer Niederlassung (chin. buluo 部落) des Puyuma-Volkes (chin. Beinan 卑南) mit dem chinesischen Namen Binlang cun 賓郎村. Dort waren wir zu Gast bei einer Familie. Sie machten uns mit ihren Begrüßungsritualen bekannt. Beeindruckt hat nicht nur die außerordentliche Gastfreundschaft, sondern auch die Kombination einer katholischen Kirche mit einer traditionellen Puyuma-Ritualstätte, an dem der Ahnengeist verehrt wird. Mit den älteren Dorfeinwohnern war eine Verständigung auch auf Japanisch ohne Probleme möglich. Die Puyuma-Gesellschaft ist matriarchalisch organisiert. Die Verehrung der Matriarchin zeigt sich unter anderem an der uns überreichten Gedenkschrift für das Familienoberhaupt: Unsere INA, des Dorfes MUMU (Women de INA – buluo de MUMU 我們的INA部落的MUMU).

Am Abend nahm unsere Delegation teil an einem Workshop zur taiwanesischen Literatur ins Deutsche bzw. Japanische (2019 nian „Taiwan wenxue waiyi“ yizhe gongzuofang, 2019年「臺灣文學外譯」譯者工作坊), organisiert von Thilo Diefenbach für die deutschsprachige und Shimomura Sakujirô 下村作次郎 für die japanischsprachige Seite. Wir erlebten den bekannten Autor Syaman Rapongan 夏曼•藍波安 (geb. 1957), einen Angehörigen des indigen „Yami“ (oder „Tao“) Volkes von der Orchideeninsel (Lanyu 蘭嶼), in deren Kultur die fliegenden Fische eine große Rolle spielen. Er selbst führt vornehmlich ein Leben in der Wildnis und zeigt nur wenig Interesse am literarischen Kulturleben.

Am folgenden Tag wurde dieser Workshop in 2 Gruppen (Japanisch bzw. Deutsch) fortgesetzt. Dr. Thilo Diefenbach, ein sehr engagierter Übersetzer taiwanesischer Literatur ins Deutsche, stellte die konkreten Herausforderungen der Übersetzung dar. Beim Workshop machten wir ferner Bekanntschaft mit Tong Ya-li 彤雅立, einer Dichterin, Übersetzerin und Germanistin; sie wird voraussichtlich im Juni in Trier das Kolleg besuchen. In ihrem Gedichtband Traum-Reise-Orte (Mengyoudi 夢遊地, in chinesischer Sprache) gibt sie auch Erfahrungen aus ihren früheren Aufenthalten in Deutschland wieder.

Auch im japanisch-chinesischen Teil des Übersetzungsworkshops wurden wir sehr zuvorkommend behandelt. Die Übersetzerin der japanischen Schriftstellerin Tsushima Yūko 津島佑子 ins Chinesische, Frau Wu Pei-chen 吳佩珍, hielt ihren Vortrag (zur Darstellung der japanischen Kolonialzeit in der Frauenliteratur) freundlicherweise spontan auf Japanisch statt Chinesisch. Anschließend gab Herr Shimomura auf Japanisch einen Überblick über die Geschichte der Übersetzung taiwanesischer Ureinwohner-Literatur ins Japanische, an der er selbst maßgeblich beteiligt war.

Am Nachmittag des 25.2.2019 erfolgte ein Besuch am außerhalb der Stadt gelegenen Campus der Taitung Universität. Stolz präsentierte man uns die im indigenen Stil eingerichtete Cafeteria (‵avuwan灶咖). Es folgte eine ausführliche Besprechung mit Treffen mit Prof. Dong Shuming, Prof. C. T. Lin, Prof. Agilasay Pakawyan (chinesischer Name Lin Chih-hsing 林志興, ehemaliger Leiter der Puyuma Ausgrabungsstätte bzw. des Prähistorischen Museums史前館, der auch viele Puyuma-Gesänge in Notenschrift aufgezeichnet hat), sowie eine Besichtigung des Campus und der Universitätsbibliothek. Eine besondere Aktivität ist das regelmäßig stattfindende „Taitung Gedichtfestival“ 臺東詩歌節 (das 7. fand statt im Jahr 2018). Wir erhielten entsprechende Publikationen überreicht. Als besonderes kulturelles Highlight stach heraus die Oper: Die Geschichte von der Jagd nach dem Hirsch (Zhu lu chuanshuo 逐鹿傳說). Von dieser Geschichte gibt es auch eine Kinderbuchfassung.

Am Abend trafen wir in der Innenstadt den Dekan der Fakultät für Kulturwissenschaft (臺東大學人文學院院長) Lin Yongfa 林永發, der auch als Kalligraph bekannt ist.

 

26.02.2019, Gangshan

Am folgenden Tag waren wir zu Besuch in Gangshan (nördlich von Kaohsiung) auf Einladung des indigenen Romanautors Badai 巴代 (geb. 1962), den wir bereits am 25.2. an der Taitung-Universität kennengelernt hatten. Er ist ein Militäroffizier im Ruhestand und als Autor sehr produktiv. In den letzten 15 Jahren hat er etwa ein Dutzend Romane verfasst. Unsere intensive Diskussion drehte sich vor allem um sein Beispielwerk The Journey of a wu Practitioner (Wu lü 巫旅), in dem die Mythologie des Puyuma-Volkes und insbesondere das Schamanentum thematisiert wird. Badai inkorporiert in seinen Werken die Puyuma-Sprache vor allem in den eingestreuten lyrischen Passagen (z. B. Zauberformeln). Der Autor wies auf die Bedeutung der Betelnuss (binlang 檳榔) in der indigenen Schamanen-Kultur hin. Seiner Auskunft zufolge sei jedes Dorf ein eigener Staat, und die von außen erfolgte Einteilung der indigenen Bevölkerung nach Kultur und Sprache in einzelne „Stämme“ sei eine sehr grobe Vereinfachung.

 

28.02.2019, Douliu

Der letzte Dichterbesuch führte uns auf Einladung von Neqou Soqluman 乜寇•索克魯曼 nach Douliu 斗六 in Zentral-Taiwan, der dort residiert, aber gleichzeitig einen Zweitwohnsitz in den Bergen im Bunun-Gebiet unterhält.

Bei einem Besuch im Markt konnten wir die lokalen Agrarprodukte kennenlernen. Neqou stellte uns verschiedene Erbsensorten vor, die von ihm gesammelt und nur den Ureinwohnern bekannt sind, und erzählte uns die Geschichte der „Erbsen-Großmutter“, die ihre Tochter mit Erbsen, die in den Bergen in der Wildnis gepflanzt worden sind, großgezogen hat. Diese Geschichte ist als Kinderbuch erschienen unter dem Titel Yibu nainai de shenqi douzi 伊布奶奶的神奇豆子, Die wundersamen Erbsen der Großmutter Yibu.

Das bekannteste Werk von Neqou ist jedoch der fantastische Roman Die Überlieferung vom Tongku Saveq (Donggu shafei chuanqi 東谷沙飛傳奇, Palisia Tongku Saveq). In ihm erzählt er vom Mythos des Jadeberges (chin. Yushan 玉山, in der Sprache des indigenen Bunun-Volkes genannt „Tongku Saveq“), der dem Bunun-Volk als Zufluchtsstätte nach einer großen Flut diente. Neqou ist auch ein produktiver Lyriker und hat einen eigenen Gedichtband herausgegeben (Ich vernehme, wie die Berge ihren Sieg verkünden, Wo tingjian qunshan bao zhangong 我聽見群山報戰功, Tan`a sakin ludun malalastapang). Die Gedichte sind teils auf Chinesisch, teils in Bunun-Sprache (mit Übersetzung ins Chinesische), teils gemischt. Bei dem Gesangs-Vortrag von Gedichten entstand der Eindruck, dass die Rhythmen und Melodien traditionsfest überliefert werden, während Themen und Motive eher aktuelle Färbung annehmen können. Des Weiteren ist eine lockere Verbindung indigener Traditionen mit Elementen der protestantischen Religion bemerkenswert.

 

Zum Abschluss der Exkursion besuchte die Trierer Delegation in den folgenden Tagen noch die National Sun Yat-sen University (NSYSU) in Kaohsiung sowie das Kunst- und Kulturzentrum „Pier 2“ (chinesisch Bo’er 駁二), wo regelmäßig Lyrik-Events, musikalische Darbietungen und Kunst-Performances abgehalten werden.

 

Alles in allem hat sich ergeben, dass eine Beschäftigung mit Lyrik in Mikro-Sprachen für das Projekt „Lyrik in Transition“ eine große Bereicherung darstellen würde. Deshalb sind weitere Aktivitäten in diesem Bereich fest eingeplant.

 

Die Exkursionsteilnehmer sind Herrn Dr. Dirk Kuhlmann (Momumenta Serica), der uns die meisten dieser Kontakte direkt vermittelt hat, zu besonderem Dank verpflichtet.